Mönchtum im Abendland: Bete und arbeite

Mönchtum im Abendland: Bete und arbeite
Mönchtum im Abendland: Bete und arbeite
 
Wer sich heute dem mittelalterlichen Mönchtum nähert, tut dies meist mit der Reserve des modernen Zeitgenossen. Spirituelle Inbrunst, Selbstkasteiung und Abtötung der leiblichen Bedürfnisse, Selbstentsagung und freiwilliger Verzicht, Weltferne um der Gottesnähe willen — was das Mönchsleben ausmacht, ist unsere Sache nicht. Im heutigen Straßenbild wirkt die Kutte des Mönchs, der Schleier der Nonne fremd und befremdlich. Im Unverständnis, ja Unbehagen gegenüber monastischen Denkweisen und Lebensformen spüren wir wie kaum irgendwo sonst unsere Distanz zur mittelalterlichen Gesellschaft und ihren Mentalitäten.
 
Schon der mittelalterliche Mönch war ein Selbstdarsteller. Durch Habit und Lebensweise stellte er sich sichtbar außerhalb der weltlichen Gemeinschaft und wollte doch aller Welt demonstrieren, dass er auf dem Weg zu Gott ein Stück weiter sei als die anderen. Kritik an der bestehenden christlichen Gesellschaft, Protest gegen ihre materielle Daseinsorientierung ist seit seinen Anfängen ein Wesenszug des abendländischen Mönchtums. Schon der Kirchenvater Hieronymus rief zur Flucht aus den Städten in die ländliche Einsamkeit, wo keine Übersättigung vom Gebet abhielt. Je mehr sich seit dem 4. und 5. Jahrhundert in den Städten Italiens und Galliens das Christentum etablierte und die Gemeinden feste Organisationsformen ausbildeten, desto dringlicher wurde das Bedürfnis nach anspruchsvolleren Formen des Gottesdienstes, nach spontaner Spiritualität. Wenn das formale Bekenntnis zu Christus, durch die Taufe und den Empfang der Sakramente ritualisiert, die Norm war, bedurfte es neuer Wege, um sich persönlich für das Heil zu qualifizieren. Diese Wege beschritten Männer und Frauen durch striktere Askese, intensiveres Gebet und entschiedenere Weltabkehr, als die allgemeine Kirche ihren Gläubigen abverlangte.
 
Damit fassen wir ein zweites Wesensmerkmal des christlichen Mönchtums. Mönchsein bedeutet nicht nur Zivilisationskritik und Weltentsagung, sondern — eben dadurch — auch Kritik an der Kirche. Weil die Kirche durch Verkündung und Seelsorge den Menschen in der Welt dienen will, trifft auch sie die Weltverachtung des Mönchs. Der Mönch muss »die Frauen und den Bischof fliehen«, forderte der gallische Mönchsvater Johannes Cassianus, d. h. das sündhafte Leben und die kirchliche Hierarchie. Vom Standpunkt der hierarchischen Kirche mit ihrem exklusiven Heilsanspruch birgt das Mönchtum stets ein anarchisches Potenzial. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die schärfsten Kirchenkritiker und die entschlossensten Kirchenreformer im Mittelalter — bis hin zu dem Augustinereremiten Martin Luther — Mönche waren.
 
 
Auch wenn sich jede Mönchsgemeinschaft einer mehr oder weniger festen Regel unterwarf, meist inspiriert von einem Gründer, war für das frühe Mönchtum doch gerade die Vielfalt und Uneinheitlichkeit der Lebensformen kennzeichnend: so viele Gemeinschaften, so viele Regeln. Was die wild gewachsenen Kommunitäten miteinander verband, waren das Ideal der Askese, die Weltflucht in die »Einöde« und das gemeinschaftliche Leben in der Nachfolge der Apostelgemeinde, in der alle »ein Herz und eine Seele« waren, und wo »keiner etwas von dem, was er besaß, sein eigen nannte, sondern ihnen alles gemeinsam war« (Apostelgeschichte 4, 32). Weltentsagung und gemeinschaftliches Leben im Geiste der Apostel sind die Säulen des monastischen Selbstverständnisses, die das abendländische Mönchtum durch seine Geschichte trugen. Aus der Spannung zwischen beiden Säulen bezog das Mönchtum seine Dynamik und die Kraft, gegen Erstarrung und Routine sich immer wieder selbst zu erneuern. Je nachdem, auf welcher Säule das Hauptgewicht lastete, erhielt das monastische Leben eine jeweils andere Richtung, ein zeittypisches und zeitgemäßes Gepräge.
 
Als Benedikt von Nursia vor der Mitte des 6. Jahrhunderts nach mehrjährigem Einsiedlerleben zuerst in Subiaco (östlich von Rom) und später auf dem Monte Cassino Brüder um sich scharte und unter eine eigene Regel stellte, waren dies Mönchssiedlungen neben vielen anderen in der damals überaus lebendigen und vielgestaltigen Mönchslandschaft Mittelitaliens. Dass Benedikt einmal zur Leitfigur des lateinischen Mönchtums schlechthin werden sollte, war weder von ihm selbst beabsichtigt noch zu seinen Lebzeiten absehbar. Ein auf breite Wirkung bedachter Reformer war Benedikt nicht, eher ein Suchender nach Gott neben anderen und in seiner Zeit kaum erfolgreicher als andere.
 
Erst in der Rückschau wird jedoch deutlich, welchen besonderen Qualitäten die Benediktregel ihre Durchschlagskraft verdankte. Entschiedener als andere Mönchsväter verpflichtete Benedikt seine Brüder zum beständigen Leben in der Gemeinschaft und wandte sich damit gegen die Bindungslosigkeit und selbstbezogene Weltabkehr des Einsiedlers. Die »Ortsbeständigkeit«, d. h. die lebenslange Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ein und desselben Klosters, ist so wesentlich, dass der Benediktiner sie in seiner Profess zusammen mit dem »Tugendwandel« und dem »Gehorsam« feierlich gelobt. Es entspricht dieser Verpflichtung auf die Gemeinschaft, dass die Regel vom Mönch nicht nur das kontemplative Gebet, sondern in gleicher Weise auch Fürsorge für die Armen und Arbeit fordert: ora et laboraBete und arbeite! — steht zwar nicht wörtlich in der Regel, die erst im Spätmittelalter aufgekommene Losung trifft aber den Geist des benediktinischen Mönchtums.
 
Mönchsein bedeutete für Benedikt das lebenslange beharrliche Bemühen um Vollkommenheit, und es kam ihm darauf an, die »Kleinmütigen« und Schwachen nicht durch extreme Härten zu entmutigen. Die Vorschriften der Regel bezüglich des Tagesablaufs, der Kleidung, des Essens, der Arbeit, der Gebetszeiten nahmen Rücksicht auf die unterschiedlichen klimatischen, örtlichen und individuellen Bedingungen. Es ist diese Flexibilität der Benediktregel, bemüht um das rechte Maß und fern von jedem asketischen Rigorismus, die sie vor allen anderen monastischen Normen so attraktiv machte, der gelungene Kompromiss zwischen dem eremitischen Ideal der alten Mönche und den pragmatischen Erfordernissen der doch im Diesseits verwurzelten und fehlbaren Gläubigen.
 
 Benediktinisches Mönchtum im frühen Mittelalter
 
Nicht immer in wortwörtlicher Erfüllung der Benediktregel, aber durchaus im benediktinischen Geist entstand im frühen Mittelalter eine blühende Klosterlandschaft, die sich über ganz Europa ausdehnte: Saint-Omer in Flandern, Saint-Wandrille und Jumièges an der unteren Seine, Saint-Denis und Saint-Germain-des-Prés vor Paris, Corbie bei Amiens, Saint-Martin in Tours, Luxeuil in den Vogesen, Sankt Gallen, Reichenau, Lorsch, Echternach, Prüm, Fulda, Sankt Emmeram bei Regensburg, Bobbio in Oberitalien, um nur wenige bedeutende Namen zu nennen. Diese Klöster waren erfolgreich, weil es ihnen gelang, spirituelle Ausstrahlung und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit miteinander zu verbinden. Nur für den heutigen Beobachter tut sich hier ein Widerspruch auf zwischen Glauben und Geld, Kapital und Charisma. Es ist indessen eher ein modernes als ein mittelalterliches Dilemma: Den Stiftern wie den Mönchen war bewusst, dass eine Mönchsgemeinschaft nur dann wirksame Gebetshilfe und Fürsorge leisten und damit ihren frommen Daseinszweck erfüllen konnte, wenn sie über eine solide materielle Ausstattung verfügte. Die überaus erfolgreiche Abtei Lorsch kam allein in den ersten acht Jahren nach ihrer Gründung (764 —771) in den Genuss von 725 Schenkungen; bis an den Niederrhein und bis zum Bodensee reichte der Besitz der rasch anwachsenden Klostergrundherrschaft.
 
Nicht alle Gründungen nahmen einen so rasanten Aufschwung, manche kamen über eine bescheidene Existenz nicht hinaus. Aber insgesamt beeindruckt, mit welcher Freigebigkeit der weltliche Adel über Jahrhunderte die Klöster ausstattete. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass die Klostergründer meist nicht völlig auf ihre Herrschaftsrechte verzichteten, ihre Gründungen dem Ausbau ihrer Grundherrschaften zugute kamen, indem sie die Mönche das Land kultivieren und wirtschaftlich nutzen ließen, mancher Stifter sich die Nutzung der übereigneten Güter auf Lebenszeit vorbehielt und sich — als Altersversorgung — den späteren Eintritt in das Kloster sicherte, erklärt dies alles doch nicht die Flut der geistlichen Stiftungen. Wir müssen schon ernst nehmen, was die Stifter in Tausenden von Urkunden als einhelliges Motiv ihrer Schenkungen nennen: »für das Heil meiner Seele«. Die Schenkung an ein Kloster — richtiger: an den Heiligen, dessen Reliquien hier ruhten — war ein Vertrag auf Gegenseitigkeit. Sie verpflichtete die Mönche, das zu tun, was jeder Christ seinem Seelenheil schuldet, aber im sündigen Erdendasein nur unvollkommen leistet: Dienst am Nächsten und Bitte um Erlösung. Die materiellen Zuwendungen setzten die Klöster in die Lage, durch Armenspeisungen und Gebetsfürsprache die versäumten Christenpflichten ihrer Begünstiger zu erfüllen, oder weniger respektvoll ausgedrückt: Die adligen Herren kümmerten sich we- nig um ein gottgefälliges Christenleben; sie konnten es sich leisten, die Sorge für ihr Seelenheil professionellem Beistand anzuvertrauen.
 
 Die Cluniazenser
 
Die saloppe Formulierung soll nicht den Glaubensernst der Zeitgenossen infrage stellen — auch wenn sie ihrem Glauben in anderen Formen Ausdruck gaben, als wir für uns zu akzeptieren bereit wären —, und noch weniger soll sie die spirituelle und karitative Leistung des mittelalterlichen Mönchtums schmälern. Sie wurde noch intensiviert durch die Reformklöster des 10. Jahrhunderts. Als Herzog Wilhelm von Aquitanien 910 im burgundischen Cluny ein Kloster errichten ließ, befreite er es von jeglichem Laieneinfluss und definierte die Gebetszuständigkeit der Mönche umfassend. Sie sollten nicht nur für ihn selbst, seinen Lehnsherrn, seine Familie und Verwandten beten, sondern ebenso, »weil wir Christen alle durch das Band einer Liebe und eines Glaubens verbunden sind, für alle Rechtgläubigen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«; täglich sollten sie Armen, Bedürftigen, Fremden und Pilgern, die in das Kloster kämen, barmherzige Hilfe zuteil werden lassen.
 
Die Cluniazenser haben diese Aufgaben mit spiritueller Energie und organisatorischem Perfektionismus erfüllt. Sie führten Totenbücher (Nekrologien) mit den Namen und Todestagen der verstorbenen Stifter und Mönche, um am Jahrestag jedes Toten individuell gedenken zu können. Dies geschah in der Liturgie und durch die Speisung eines Armen, der stellvertretend für den Verstorbenen dessen Tagesration erhielt. In den Bedürftigen waren die Toten gegenwärtig. Weil aber solche Nekrologien nicht nur für Cluny oder unabhängig für andere Klöster aufgezeichnet, sondern innerhalb des cluniazensischen Klosterverbandes unter den Häusern ausgetauscht und in das eigene Totengedenken eingeschlossen wurden, wuchsen die Verzeichnisse und damit die Zahl der Armenspeisungen sprunghaft an. Die cluniazensischen Nekrologien nennen insgesamt über 90 000 Namen, an manchen Tagen waren von einem Kloster hundert oder mehr Bedürftige zu verköstigen. Hinzu kamen besondere Totengedächtnisse, an Pfingsten und am (von Cluny eingeführten) Allerseelentag, bei denen in jedem Kloster so viele Arme versorgt wurden, wie dort Mönche lebten. Insbesondere für kleinere Gemeinschaften hatten die aufwendigen Fürsorgeverpflichtungen ruinöse Folgen — manchmal speisten hier die Bettler besser als die Klosterbrüder —, aber auch für den Cluniazenserverband insgesamt waren die karitativen Leistungen in solchem Umfang auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten. Um 1150 ließ der Abt Petrus Venerabilis die täglichen Nekrologeinträge auf 50 beschränken, »damit nicht im Laufe der Zeit die ins Unermessliche wachsenden Toten die Lebenden verdrängen«.
 
Die Cluniazenser verbanden in einzigartiger Weise praktizierte Caritas mit liturgischer Prachtentfaltung und trafen damit den religiösen Nerv der Zeit, sodass Cluny über Burgund hinaus zu einem mächtigen Klosterverband expandierte. Bis zum Ende des 11. Jahrhunderts umfasste er wohl über tausend Klöster von Kastilien bis an den Rhein, von Südengland bis nach Mittelitalien. Andere Reformzentren verblassten im Schatten Clunys. Manche von ihnen, wie Gorze, Dijon, Fleury und Hirsau, übernahmen die cluniazensische Observanz. Die geistige Wirkung Clunys strahlte somit weit über seine eigenen Klöster hinaus. Was die Zeitgenossen mit Bewunderung erfüllte, beeindruckt noch heute. In einer Gesellschaft, die gewohnt war, ihre Konflikte durch Faustrecht zu regulieren, und die soziale Sicherungen für die zu kurz Gekommenen nicht kannte, leisteten die Mönche zivilisatorische Schwerstarbeit. Dass sie dies tun konnten, verdankten sie der Faszination ihres monastischen Ideals, die sie gerade auch auf den weltlichen Adel ausübten, sodass er bereit war, ihr Wirken hinter den Klostermauern zu fördern und zu schützen.
 
 Neue Orden
 
Die beherrschende Stellung der Cluniazenser blieb unangefochten bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts. Dann mussten sie sich der wachsenden Konkurrenz neuer monastischer Strömungen stellen. Damit durchlief das cluniazensische Mönchtum das Schicksal aller monastischen Bewegungen im Mittelalter. Eine Reform, die erfolgreich ist, schleift sich allmählich ab. Das heisst nicht, dass die alten Klöster sofort in Bedeutungslosigkeit versinken. Aber der Reformeifer hat sich erschöpft, der innovative Schwung erlahmt, was als fromme Vision begonnen hat, gerinnt mit der Zeit zum monastischen »Establishment«.
 
In Cluny erstarrte die spontane Spiritualität in der Routine des tagtäglichen Psalmodierens. Der materielle Reichtum und die soziale Exklusivität seiner Adelsklöster wurden zunehmend als anstößig empfunden. Der Massenbetrieb der Großklöster, das herrscherliche Auftreten der Äbte, die Pracht der Klosterbauten musste die Sehnsucht nach eremitischer Abgeschiedenheit und Einkehr wecken. Seit der Mitte des 11. Jahrhunderts waren überall neue Gruppen aufgetaucht, von denen jede für sich christliche Vollkommenheit beanspruchte. Wenn sie von der »cluniazensischen Kirche« sprachen, klang darin weniger Bewunderung als vielmehr Skepsis und Kritik. Sie forderten ein neues Mönchtum, das nicht auf Adelsmacht gegründet war, sondern das zu den Vätern in die »Wüste« zurückkehrte. »Ich will nicht in den Städten verweilen, sondern lieber in verlassenen und unbewohnten Gegenden«, entschied Norbert von Xanten, der Gründer des Prämonstratenserordens, ähnlich wie schon einmal 700 Jahre zuvor der heilige Hieronymus.
 
Der Kampf gegen die Laxheit des Glaubens und des religiösen Lebens war ja seit jeher die Hauptantriebskraft des Mönchtums gewesen, jetzt wurde er wieder mit neuem Elan aufgenommen. Die Reformorden setzten dem Monopol Clunys eine Vielfalt monastischer Lebensformen entgegen, wie es sie seit den Anfängen des abendländischen Mönchtums nicht mehr gegeben hatte. Was die Kartäuser und Zisterzienser, die Prämonstratenser und Augustinerchorherren aller Verschiedenheit, ja Rivalität zum Trotz miteinander verband, war der eremitische Gegenkurs gegen das etablierte Mönchtum. Waren die alten Abteien zu geschäftigen Marktsiedlungen, zum Teil schon beinahe zu Städten ausgewachsen, die großen Cluniazenserklöster von weltlichen Adelshöfen kaum mehr zu unterscheiden, dann musste das Heil wieder in der Einsamkeit der Wälder gesucht werden. Was Wunder, dass die Stifter sich mehr und mehr den neuen Gruppen zuwandten, die mit unverbrauchtem spirituellem Schwung die Menschen begeisterten und die besseren Heilschancen versprachen.
 
 Die Zisterzienser
 
1098 verließ Robert, der Abt des Klosters Molesme (in der Diözese Langres), mit zwanzig Brüdern seine Abtei. Molesme war unter seiner Leitung in kurzer Zeit zu einer angesehenen Abtei mit eigenen Tochtergründungen angewachsen, entsprach damit aber nicht mehr den strengen Vorstellungen Roberts von einem Mönchsleben in Askese und Abgeschiedenheit. In dem kleinen Ort Cîteaux (Cistercium) an der alten Römerstraße zwischen Langres und Chalon wollte er mit seinen Gefährten ganz von vorn beginnen. Novum monasterium, das »Neue Kloster«, nannten sie ihre Gründung schlicht und zugleich im Bewusstsein eines engagierten Neubeginns.
 
Aus den bescheidenen Anfängen entstanden innerhalb eines halben Jahrhunderts 350 Zisterzienserklöster. Um 1300 waren es etwa 700 Männer- und vielleicht noch mehr Frauenklöster in ganz Europa. Schon in der Mitte des 12. Jahrhunderts konnte der staufische Chronist und Bischof Otto von Freising, selbst Zisterzienser, feststellen, dass »die Welt zisterziensisch« geworden sei. Der Erfolg der Zisterzienser beruhte auf der überzeugenden Verbindung von Armut, Weltabgeschiedenheit, asketischer Lebensführung und Arbeit. Diese Mönche beteten nicht nur, sie rodeten auch Wälder und legten Sümpfe trocken. Anders als die Cluniazenser wollten die Zisterzienser nicht die bestehenden Klöster reformieren, sondern gründeten neue Mönchsgemeinschaften und zwar dort, wo asketisches Leben nicht bloße Stilübung, sondern tatsächlich gefordert war. Ihre Klöster bauten sie in die unberührte Wildnis, sofern es sie noch gab, oder zumindest in abgelegene Gegenden; darum herum kultivierten und bewirtschafteten sie das Land, sodass ihre Abteien zu agrarischen Musterbetrieben wurden. Sie waren Pioniere bei der Erschließung neuer Landschaften wie in der Anwendung neuer Techniken der Landgewinnung und der Bodenverbesserung. Der hochmittelalterliche Landesausbau wäre ohne die Zisterzienser schwerfälliger verlaufen.
 
Damit aber gestalteten die »weißen Mönche« die Welt außerhalb ihrer Klostermauern in einer Weise, wie es in der Geschichte des abendländischen Mönchtums bisher noch keiner Gemeinschaft gelungen war. Dass sie der weltliche Erfolg wieder — wie schon andere Orden vor ihnen — in Konflikte mit ihren selbst auferlegten Normen stürzte und von ihrem Ideal entfernte, war den Zisterziensern durchaus bewusst. Bernhard von Clairvaux, der große Zisterzienserabt, Theologe und Prediger, der jede mönchische Zurückhaltung ablegen konnte, wenn es darum ging, auf die Mächtigen seiner Zeit Einfluss zu nehmen und deren Politik aktiv mitzugestalten, lebte und spürte wie kein anderer die Widersprüche seines Mönchslebens: »Zu euch schreit mein ungetümes Leben, mein belastetes Gewissen«, schrieb er an einen befreundeten Kartäuserkonvent: »Ich bin gewissermaßen eine Chimäre meines Jahrhunderts, verhalte mich weder wie ein Kleriker noch wie ein Laie. Das Leben eines Mönchs habe ich schon lange abgelegt, nicht den mönchischen Habit.«
 
Mit dem Zisterzienserorden war der Höhepunkt und zugleich Endpunkt einer monastischen Tradition erreicht. Vom 13. Jahrhundert an sind berühmte Klöster wie die Reichenau oder Lorsch, Cluny oder Cîteaux, in denen Mönche in ländlicher Abgeschiedenheit von der Welt und den Mitmenschen lebten, nicht mehr entstanden. Die Zukunft gehörte den Bettelorden, die mitten im Trubel der Städte dem Mönchtum des späten Mittelalters eine ganz neue Form und Richtung gaben.
 
 Armutsbewegung und Bettelorden
 
So hat der Herr mir, dem Bruder Franziskus, gegeben, das Leben in Buße zu beginnen: Denn als ich in Sünden war, schien es mir unerträglich bitter, Aussätzige anzusehen. Und der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und als ich fortging von ihnen, wurde mir das, was mir bitter vorkam, in süße Freude der Seele und des Leibes verwandelt. Und danach hielt ich eine Weile inne und ging aus der Welt hinaus.«
 
Es ist ein Lebensweg von radikaler Konsequenz, den Franz von Assisi in seinem Testament 1226 in schlichter Sprache beschrieb. Den Bruch mit der Welt hatte Franz von Assisi 1207 in einer spektakulären Szene vollzogen, als er sich vor dem Palast des Bischofs von Assisi in aller Öffentlichkeit nackt ausgezogen und seinem Vater Kleider und Geld vor die Füße gelegt hatte. Was ihn, den Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers und alles andere als ein asketischer Schwärmer, bewogen haben mochte, die durchaus hoffnungsvollen Anfänge im väterlichen Geschäft und die Dolce Vita der Stadtschickeria hinter sich zu lassen und alle irdischen Karrierechancen über Bord zu werfen, bleibt letztlich unklar: die Kriegsgefangenschaft in Perugia oder die schwere Krankheit danach oder doch die tägliche Begegnung mit dem Elend derer, die vom Wohlstand der neureichen Großstadt ausgeschlossen waren. Nachdem er mit Elternhaus und Gesellschaft gebrochen hatte, lebte der damals 25-jährige Franziskus zunächst zurückgezogen als Eremit und kümmerte sich um den Aufbau verfallener Kirchen in Assisi. Im Tagesevangelium des 24. Februar 1208, der Aussendung der Apostel durch Jesus, hörte er die Anweisung für seine künftige Lebensform: »Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus! Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben. Steckt nicht Gold, Silber und Kupfermünzen in euren Gürtel. Nehmt keine Vorratstasche mit auf den Weg, kein zweites Hemd, keine Schuhe, keinen Wanderstab; denn wer arbeitet, hat ein Recht auf seinen Unterhalt« (Matth. 10, 7—10). Fortan trug Franz von Assisi in buchstabengetreuer Erfüllung des Evangeliums nur noch eine Kutte aus grobem Stoff und einen Strick, keine Schuhe, keine Tasche, und mied jeden Besitz.
 
Gewiss war die Berufung auf die Heilige Schrift als die von Gott offenbarte Lebensnorm nicht originell. Alle Mönche hatten seit jeher in der Apostelgemeinschaft das Modell ihres eigenen Lebens gesehen. Und auch die Armut musste Franz von Assisi nicht neu entdecken. Seit gut hundert Jahren waren überall Eremiten und Wanderprediger aufgetreten, die zur persönlichen Nachfolge des Gekreuzigten in Armut und Besitzlosigkeit aufriefen und die Gläubigen in Massen anzogen. Manche dieser Gruppen formten sich zu Orden mit päpstlicher Anerkennung, wie die Dominikaner, die Predigergemeinschaft des Kastiliers Dominikus; andere widersetzten sich hartnäckig der kirchlichen Ordnung und wurden als Ketzer bekämpft, wie die »Armen von Lyon« (Waldenser) um den Lyoneser Kaufmann Waldes. Die Ketzer des 12. und 13. Jahrhunderts hatten ebenso Anteil an der religiösen Armutsbewegung wie die aus demselben Strom entstehenden Bettelorden.
 
 Die Franziskaner
 
Im religiösen Klima des frühen 13. Jahrhunderts entsprach die Entscheidung des Franz von Assisi also durchaus dem »Zeitgeist«. Was die franziskanische Bewegung von anderen abhob, war die charismatische Persönlichkeit ihres Gründers, seine bis zur totalen Selbstentäußerung gesteigerte ekstatische Frömmigkeit. Dass er nach dem (autosuggestiven?) Durchleiden der Passion Christi am Ende seines Lebens selbst die Wundmale des Gekreuzigten trug, ist von Zeitgenossen glaubhaft bezeugt. Viele waren ergriffen von seiner Begeisterung für die »geliebte Frau Armut«, seiner Bußpredigt, seiner Hingabe an die Armen und Aussätzigen und schlossen sich Franziskus an.
 
Bis zum Ende des Jahrhunderts breitete sich der »Orden der geringeren Brüder« (Minoriten), wie Franziskus selbst seine Bruderschaft nannte, über ganz Europa aus. Missionsreisen führten Franziskaner aber auch bis nach Ägypten und ins Heilige Land, nach Persien und in das Mongolenreich bis nach Peking (1294). Die Franziskaner waren somit Wegbereiter der Kulturbegegnung zwischen Asien und Europa. Um 1300 zählte der Orden etwa 30 000 Mitglieder. In jeder größeren europäischen Stadt gab es einen Franziskanerkonvent (wohl schon 1219 in Paris, nach 1221 in den rheinischen Bischofsstädten), bedeutende Franziskanerschulen entstanden in Paris, Oxford und Köln. Die Brüder überzeugten durch engagierte Seelsorge insbesondere für die unteren Schichten und durch volksnahe Predigt, häufig in Konkurrenz zum Ortsklerus und von diesem nur ungern gelitten, während sie selbst ihren Unterhalt von Almosen bestritten. Der italienische Franziskaner Johannes von Capestrano predigte 1452 auf dem Magdeburger Markt so eindringlich, dass die Zuhörer erst gebannt seiner gut zweistündigen Predigt lauschten, dann noch einmal so lange der Übersetzung eines deutschen Mitbruders und schließlich, von spontaner Bußfertigkeit überwältigt, »alle Spielbretter, Brettspiele, Würfel, Kartenspiele, Narrensäcke und die Frauen ihre Bänder und ihr künstliches Haar, das sie sich einzuflechten pflegten, alle brachten und auf dem neuen Markt verbrannten«.
 
Die Bettelorden hatten einen völlig neuen Mönchstyp hervorgebracht. Die Franziskaner und Dominikaner, die Karmeliten und Augustinereremiten (die wenig später hinzukamen) wirkten nicht in der »weltfernen« Abgeschiedenheit von Klöstern, sondern ohne Ortsbindung als Wanderprediger unterwegs oder an den sozialen Brennpunkten der spätmittelalterlichen Städte. Ihre Aufgabe war nicht in erster Linie das stille Gebet, sondern der — manchmal marktschreierische — Aufruf der ganzen Welt zu Umkehr und Buße, und ihr Platz war neben den Schwächsten der Gesellschaft, denen sie sich wie Christus und die Apostel brüderlich verbanden, indem sie ihre »mindere« Existenz bewusst und demonstrativ teilten. So lebten sie mitten in der Gesellschaft und sonderten sich doch radikaler als je die alten Mönche von dieser Welt ab, deren Werte, Geld, Reichtum und Prestige, für den heiligen Franziskus schlicht »Scheißdreck« waren.
 
 Ketzer und Heilige
 
Die Bettelmönche gehörten in die Stadt, in das Milieu des Kaufmanns und des Bürgers, auf dessen Almosen sie angewiesen waren und der wie niemand sonst nach neuen Ausdrucksformen seiner Religiosität suchte. Denn die zunehmend institutionalisierte Papstkirche ließ mit ihren Dogmen und Rechtsvorschriften wenig Raum für das persönliche Glaubenserlebnis und hatte sich von den geistlichen Bedürfnissen insbesondere der gebildeten städtischen Laienbevölkerung weit entfernt. Hier waren die Bettelorden eine überzeugende Alternative zum normalen und normierten Heilsangebot der Kirche, freilich auch eine gefährliche Konkurrenz. Es war das Verdienst des Papstes Innozenz III., die spirituelle Kraft der Franziskaner früh erkannt und in kirchliche Bahnen gelenkt zu haben, indem er ihnen Predigt und Lebensform erlaubte (1209/10).
 
Franziskus selbst hatte sich zeitlebens schwer getan, seine Brüder an eine feste Regel und Ordnung zu binden. Daher stürzte sein Tod (1226) die Minoriten in eine tiefe Krise. Im Streit um das wahre Erbe des Heiligen spalteten sich die Brüder in zwei Lager: Die »Spiritualen« ließen nur Franziskus selbst als Lebensnorm gelten und hielten kompromisslos an dem von ihm gelebten Armutsideal fest; die gemäßigtere Mehrheit bewegte sich auf eine Ordensverfassung zu, die bei prinzipieller Armut wenigstens den einfachen Gebrauch lebensnotwendiger Dinge (für Lebensunterhalt, Kleidung, Kult und Studium), nicht aber deren Eigentum zuließ. Die Armutsfrage belastete die Franziskaner noch lange, und sie rüttelte am Selbstverständnis der Kirche: Wenn »Christus und die Apostel einzeln und gemeinsam nichts zu eigen besessen haben«, wie der Franziskanergeneral Michael von Cesena behauptete, mit welchem Recht konnte sich dann die reiche Kirche auf Christus berufen? Zu Beginn des 14. Jahrhunderts spitzte sich der Konflikt zu. Papst Johan- nes XXII. erklärte 1323 die franziskanische Armutsauffassung für »irrig und häretisch«; ihre Anhänger wurden als Ketzer verfolgt.
 
In der Geschichte der Bettelorden zeigt sich noch einmal in besonderer Schärfe das grundsätzliche Dilemma aller monastischen Gemeinschaften — und auch der Kirche insgesamt — zwischen der Freiheit des Charismas und dem Zwang der Institution. Welcher institutioneller Fixierungen durch Ordensregeln, Organisation und Rechtsformen bedarf das Charisma, um über die spontane Inspiration hinaus dauerhaft wirken zu können? Wieviel davon ist ihm zuzumuten, um das freie Wehen des Heiligen Geistes nicht in starre Passformen zu pressen? Die Franziskaner haben einen befriedigenden Weg aus diesem Dilemma so wenig gefunden wie andere Orden vor ihnen. Dabei erfuhren sie, wie gefährlich schmal in der spätmittelalterlichen Kirche der Grat geworden war zwischen Orthodoxie und Häresie, Verehrung und Verfolgung. »Es gibt eine innere Verwandtschaft zwischen Heiligen und Ketzern, beide Bereiche konvergieren. .. Ketzer sind verhinderte Heilige; Heilige sind verkappte Ketzer« (Alexander Patschovsky). Dann wäre Franz von Assisi am Ende ein verkappter Ketzer, wären Jan Hus und Martin Luther verhinderte Heilige? Nur hierokratische Autorität, nicht jedoch der gelebte Glaube vermag scharfe Trennlinien zu ziehen und hat sie in der Geschichte der Kirche bis heute immer wieder gezogen.
 
Dr. Arnold Bühler
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Gesellschaftsordnung des Mittelalters: Die geistigen Grundlagen mittelalterlicher Ordnung
 
 
Die Benediktusregel. Lateinisch-deutsch, herausgegeben von Basilius Steidle. Beuron 1963.
 Frank, Karl Suso: Geschichte des christlichen Mönchtums. Darmstadt 51993. Nachdruck Darmstadt 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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